Kulturerbe als Innovations-Hub

Interview mit Dr. Johanna Leissner

Im Rahmen der Forschungsallianz Kulturerbe der Fraunhofer-Gesellschaft beschäftigt sich das Fraunhofer IMW mit dem gesellschaftlichen Wert von Kulturerbe und mit dessen Schutz vor den Folgen des Klimawandels. Im Gespräch berichtet Dr. Johanna Leissner, Gründerin der Forschungsallianz und Vertreterin im Fraunhofer EU-Büro in Brüssel, über den Erfolg der Allianz und über Nachholbedarf beim Thema Kulturerbe.

Liebe Frau Dr. Leissner, Sie sind Mitbegründerin und wissenschaftliche Vertreterin der Forschungsallianz Kulturerbe, die 2008 von der Fraunhofer-Gesellschaft, der Leibniz-Gemeinschaft und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ins Leben gerufen wurde. Wie sind Sie als studierte Chemikerin zu dem Thema Kulturerbe gekommen?

Ich bin durch Zufall auf das Thema Kulturerbe gestoßen, als ich am Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC in Würzburg gearbeitet habe. Das Fraunhofer ISC beteiligte sich zu diesem Zeitpunkt an einem Forschungsprogramm zum Thema »Erhalt von Glas und Stein«. Es sollte unter anderem eine Beschichtung zum Schutz von Glasmalerei, die sehr korrosionsempfindlich ist, entwickelt werden. Dazu konzipierten wir zunächst Modellgläser zum Testen der Beschichtung und entdeckten dabei, dass diese Gläser auch als Sensoren benutzt werden können, z. B. um die richtige Belüftung zu prüfen. Durch das Projekt habe ich mich weiter in die Umweltforschung eingearbeitet und konnte mich mit mittelalterlicher Glasmalerei beschäftigen, was mich schon immer interessiert hat. Letztendlich war es also ein glücklicher Zufall, dass ich beide Leidenschaften miteinander verbinden konnte.

 

2018 ist das Europäische Kulturerbejahr und die Forschungsallianz feiert ihr zehnjähriges Bestehen. Was haben Sie in der vergangenen Dekade mit der Allianz erreichen und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gewinnen können?

Die Allianz ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Forschungsgemeinschaften, sie impliziert also keinen Fluss von Fördermitteln. Dennoch haben wir einiges erreicht. Innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft haben wir ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass es zum Erhalt von Kulturerbe Forschung braucht. Einzelne Institute, die unabhängig am Thema arbeiten, wissen nun voneinander. Dadurch wurde eine Bündelung und eine Struktur der Thematik erreicht. Auch flossen im Rahmen eines Vorstandsprojekts Geldmittel innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft, wodurch die Forschungsallianz mehr Bekanntheit erlangt hat. Wir waren außerdem am EU-Projekt »Climate for Culture« beteiligt, das eine Plattform für einen Erfahrungsaustausch bildet, in der die einzelnen Kompetenzen verschiedener Institute als Komplemente gesehen werden. Ziel ist nicht, Forschung »wegzunehmen«, sondern diese zu bereichern. In Brüssel konnten wir darüber hinaus Einfluss darauf ausüben, dass Kulturerbe in den Fokus der Forschung aufgenommen wird, sonst wäre ein Europäisches Jahr des Kulturerbes nicht möglich gewesen. Zudem regten wir im Juni 2018 eine Wissenschaftskonferenz in Berlin an.

 

Wo sehen Sie in Zukunft wissenschaftlich, gesellschaftlich und politisch Nachholbedarf beim Thema Kulturerbe?

In Deutschland gibt es bis jetzt kaum Forschung zu den Auswirkungen des Klimawandels auf das Kulturerbe. Ich habe als einzige Vertreterin aus Deutschland an einem Strategie-Papier der UNESCO mitgewirkt, in dessen Verlauf auffiel, dass viel mehr Forschung zum Naturerbe betrieben wird. Die Forschungsallianz Kulturerbe ist daher ein wichtiger, einzigartiger Zusammenschluss in Deutschland, der Kompetenzen bündelt und Ansprechpartner schafft. Eine weitere Herausforderung ist, dass es in Deutschland kein generelles Forschungsprogramm für Kulturerbe gibt. Auch die Themen Inklusion, Digitalisierung, Sensorik und Risikomanagement müssen im Zusammenhang mit Museen erforscht werden. Analog zur Industrie 4.0 wird auch Kulturerbe 4.0 benötigt. Die Schwerpunkte des Fraunhofer IMW, Innovation und Wissensmanagement, passen hier sehr gut dazu.

 

Das Team um Urban Kaiser am Fraunhofer IMW hat in den vergangenen drei Jahren mit sächsischen Partnern im Modellprojekt der Forschungsallianz eine umfangreiche Studie zum gesellschaftlichen Wert von Kulturerbe angefertigt. Warum ist das wichtig?

Es ist essentiell, Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in der Politik zu zeigen, dass Daten geliefert werden müssen. Die Studie des Fraunhofer IMW basiert auf einem neuartigen Ansatz, der im Bereich des Kulturerbes noch nie realisiert wurde. Die Ergebnisse können Anträge zum Erhalt und Schutz von Kultuterbe mit den notwendigen Daten unterfüttern und ggf. aus ökonomischer Sicht begründen. Auch der nicht-monetäre Teil, also der gesellschaftliche Wert eines Kulturerbe-Objekts, kann darüber hinaus erstmalig in Zahlen ausgedrückt und veranschaulicht werden - ein großer Gewinn. Wichtig ist es weiterhin, keine kleinen Einzel-Studien durchzuführen, sondern über längere Zeit Daten zu sammeln, um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten und Innovationen anzustoßen. Kulturerbe kann als Innovation-Hub gesehen werden, denn Künstler nutzen zur Schaffung ihrer Werke oft modernste Technologien oder entwickeln diese weiter. Dieser Aspekt von Kulturerbe wird noch viel zu wenig gesehen.

Dr. Johanna Leissner
Rue Royale 94
B-1000 Bruxelles

Telefon +32 2 506-4243
E-Mail

Climate for Culture

Mit Fraunhofer-Innovationen sächsisches Kulturerbe schützen – ein Modellprojekt

Gruppe Innovationsakzeptanz