Liebe Frau Preissler, liebe Frau Jörke, vor etwa einem Jahr ist das Projekt DiBBLok gestartet, das den digitalen Wandel in der Berufsausbildung an der Schnittstelle Ausbildungsbetrieb und Berufsschule untersucht. Ein Blick in die Zukunft: Wie könnte die ideale, digitale Lernortkooperation von Morgen aussehen?
Anzhela Preissler: Die ideale, digitale Lernortkooperation der Zukunft spannt ein Netzwerk zu Verbünden und Organisationen, die Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben als Kooperationspartner zur Verfügung stehen – zum Beispiel zu überbetrieblichen Bildungseinrichtungen der Kammern oder außerbetrieblichen Bildungsanbietern. Das Kooperationsverständnis hat sich dabei von einem eher pragmatischen hin zu einem bildungstheoretisch begründeten Verständnis entwickelt: Die einzelnen Akteure informieren sich nicht nur gegenseitig, sondern stimmen sich zum didaktischen Grundkonzept ab und kollaborieren kontinuierlich über den gesamten Zeitraum der Berufsausbildung hinweg.
Desirée Jörke: Die digitale Lernortkooperation von Morgen wird zudem idealerweise über eine Webanwendung realisiert. Schon jetzt ist das zum Beispiel über den Online-Ausbildungsnachweis für duale Ausbildungsberufe »BLok« möglich. Auf das digitale Tool haben alle Beteiligten, angefangen von den Auszubildenden über die Ausbildenden bis hin zur Ausbildungsleitung, aber auch Berufsschullehrkräfte und Kooperationspartner zeit- und ortsunabhängig Zugriff. Über die Webanwendung können Informationen, Nachrichten, Lehrinhalte und Artefakte ausgetauscht und der individuelle Entwicklungstand der Auszubildenden über ein Entwicklungsportfolio abgebildet werden. Eine kontinuierliche Nutzung schafft eine enge Verzahnung der Lernorte »Berufsschule« und »Ausbildungsbetrieb« und ermöglicht die aufeinander abgestimmte Didaktik. Die Qualität der beruflichen Ausbildung steigt und die angehenden Fachkräfte erwerben zusätzliche Kompetenzen, die über den eigentlichen Ausbildungsberuf hinausgehen.
Während der Corona-Pandemie merken wir, wie wichtig der Einsatz digitaler Technologien im Bildungswesen ist – gerade bei der Vernetzung von Berufsschule und Ausbildungsbetrieb und den beteiligten Akteuren (Auszubildende, Ausbildende, Lehrkräfte). Not macht sicher erfinderisch, so dass digitales Lernen und Lehren grundsätzlich möglich ist, doch welche strukturellen Herausforderungen werden im Moment in der digitalen Berufsausbildung offensichtlich?
Anzhela Preissler: Strukturell liegen die größten Herausforderungen in der technischen Infrastruktur kleiner und mittelständischer Betriebe, insbesondere auch vieler Berufsschulen. Oft fehlen die notwendige Hard- und Software oder simpel das W-LAN. Häufig ist auch die regional verfügbare Netzabdeckung ungenügend. Zudem braucht der Einsatz digitaler Tools zusätzliche zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen. Es reicht häufig nicht, einfach digitale Medien einzusetzen, aber gleichzeitig an traditionellen Unterrichtsformen und Lernkonzepten festzuhalten. Die Rollen der beteiligten Akteurinnen und Akteure verändern sich durch eine digitale Lernortkooperation, beispielsweise vom Lehrenden hin zum Lernbegleiter, zum Moderator des Lernprozesses. Neben der technischen Ausstattung, ist deshalb die mediendidaktische Weiterbildung von Berufsschullehrenden und Ausbildenden besonders wichtig. Anreize, zum Beispiel eine Kostenübernahme durch die Kammer, könnten dabei helfen, dass sich Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe stärker auf das »Wagnis« digitaler Lernort einlassen.
Welche Rolle werden aus Ihrer Sicht zum Beispiel (regional verankerte), digitale Lern- und Plattformen in der beruflichen Ausbildung der Zukunft spielen?
Desirée Jörke: Digitale Lernplattformen oder Lern(management)systeme sind zukünftig sicher ein zentraler Aspekt der digitalen Berufsausbildung. Als Auszubildende bzw. als Auszubildender kann ich dadurch zeit- und ortsunabhängig, je nach Lernstand und Lerntempo, auf die Inhalte der Berufsausbildung zugreifen. Unterschiedliche Medien – etwa Text-, Bild-, Audio- und Videomaterial – können miteinander kombiniert werden. Dadurch steigt die Attraktivität der Ausbildung – und sie passt sich stärker dem Bedarf der Nutzerinnen und Nutzer an.
Wie wirkt sich die aktuelle Situation auf das Forschungsprojekt DiBBLok und Ihre weitere Forschungsarbeit aus?
Desirée Jörke: Durch die Kontaktbeschränkungen ist es notwendig, dass wir unsere Feldforschungsmethoden anpassen. Wir stellen uns auf die Bedürfnisse der Ausbildungsbetriebe, die wir untersuchen möchten, ein – und führen Interviews zum Beispiel online durch oder bieten Workshops nur in Kleingruppen an. Damit untersuchen wir, welche Faktoren den digitalen Lernort auf der organisationalen und der individuellen Ebene treiben oder hemmen. Unsere These ist es, dass die jeweiligen organisationalen Rahmenbedingungen und die damit verbundenen Prozesse Einfluss auf die Umsetzung des digitalen Lernortes haben, da sie der Bezugsrahmen für Veränderungen im jeweiligen Bildungsort sind.
Anzhela Preissler: Grundsätzlich stehen wir erst am Anfang, die Vorteile der digitalen Medien in der Berufsausbildung tatsächlich auszuschöpfen. Die duale Berufsausbildung ist ein jahrzehntelang gewachsenes und international anerkanntes System, das sich seiner bewährten – auf Präsenzpraxen basierenden – Routinen bewusst ist. Digitale Medien bieten insbesondere Mittelständlern neue Möglichkeiten des Austauschs, der Vernetzung und der individuellen Weiterbildung. In einem weiteren Forschungsprojekt – dem »Zentrum digitale Arbeit« – bündeln wir dafür im Verbund mit dem Projektträger Arbeit und Leben Sachsen e. V., der Universität Leipzig, der HTWK und der ATB Arbeit, Technik und Bildung gGmbH Forschungs- und Erfahrungswissen zum digitalen und demographischen Wandel des Arbeitsmarkts in einem digitalen Wissenspool.
Was sind die nächsten Schritte im Projekt DiBBLok?
Desirée Jörke: Wir beginnen gerade die qualitativen Fallstudien, um auf Makro-, Meso- und Mikroebene unsere Forschungsthesen zu untersuchen. Dafür haben wir Ausbildungsbetriebe identifiziert, die hinsichtlich ihres Digitalisierungsgrades als »Best Practice« gelten. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass der Einsatz digitaler Medien die Lern- und Austauschprozesse der Lernortkooperation maßgeblich unterstützt, aber die persönliche Kommunikation und Zusammenarbeit nicht ersetzt. Für die beteiligten Akteurinnen und Akteure bedeutet digitales Lehren und Lernen, sich auf neue Wege der Vernetzung einzulassen, digitale Grundkompetenzen aufzubauen und die Motivation, sich aktiv in die Kooperation einzubringen. Diese Annahmen spiegeln und evaluieren wir in den jetzt folgenden Interviews. Außerdem beginnen wir damit, unsere bisherigen Forschungsergebnisse zu publizieren.