Die Spotlights von morgen – Projekt »Foresight-Fraunhofer« identifiziert Zukunftsthemen bis 2030

Einmal in die Kristallkugel schauen und die Zukunft vorhersehen? Fraunhofer-Forscherinnen und Forscher blicken stattdessen wissenschaftlich fundiert nach vorn, um die Zukunftsthemen bis zum Jahr 2030 zu identifizieren. Zur systematischen Nutzung dieses Wissens erarbeiten sie einen Foresight-Prozess, mithilfe dessen die Forschung auch auf langfristige Perspektiven eingehen kann. Am Verbundprojekt »Foresight-Fraunhofer« sind neben den Kolleginnen und Kollegen des Fraunhofer ISI, IAO und INT auch Dr. Juliane Welz, Annamaria Riemer und Inga Döbel vom Fraunhofer IMW beteiligt. Sie erklären im Interview, wie der Weitblick funktioniert, wo der Fokus liegt und was die Ergebnisse ermöglichen. Über das Frauhofer Foresight Projekt hinaus geben sie Einblicke auch in andere Projekte im Bereich der Zukunftsforschung.

 

1.    Liebe Frau Dr. Welz, das Projekt »Foresight-Fraunhofer« ist ein Verbundprojekt des Fraunhofer IAO, ISI, INT und IMW. Sie leiten das Projekt am Fraunhofer IMW. Was bedeutet »Foresight« genau, was hat es mit der »Foresight-Methode« auf sich und worum geht es konkret bei diesem Projekt?

»Foresight« oder »Vorausschau« heißt, einen systematischen Blick in die Zukunft zu werfen, um Folgerungen für das Tun oder Lassen in der Gegenwart abzuleiten. Durch vorausschauendes Verhalten können systematisch Entscheidungen für Aktivitäten mit längerem Zeithorizont getroffen werden. Foresight bedeutet dabei die Entwicklung von strategischem Orientierungswissen und beinhaltet nicht nur Kenntnisse über gegenwärtige Anforderungen oder kurzfristige Herausforderungen, sondern auch Wissen über langfristige Zukunftsperspektiven.
Ziel des Projekts »Foresight-Fraunhofer« ist es, im Rahmen eines systematischen Foresight-Prozesses technische Entwicklungen und gesellschaftliche Trends mit hohem Innovationspotenzial und großer Marktnähe zu identifizieren und diese hinsichtlich ihrer Relevanz für die Fraunhofer Gesellschaft zu analysieren. Die Validierung der Trends erfolgt einerseits durch eine Potentialanalyse, andererseits durch eine breite Einbindung der Fraunhofer-Institute im Rahmen einer Online-Befragung. Ergänzend sollen Vorgehensweisen, Instrumente und neue methodische Elemente – wie etwa der Einsatz eines KI-Tools – erprobt werden, die zukünftig einen systematischen Foresight-Prozess der Fraunhofer-Gesellschaft unterstützen können.

 

2.    Mit welchen wissenschaftlichen Methoden unternimmt das Projekt den Weitblick?

Im Projekt »Foresight-Fraunhofer« finden verschiedene Methoden Anwendung. In der ersten Phase geht es um die Erkennung, Beschreibung und Bewertung von Themen, die das Potenzial haben, in zehn oder mehr Jahren für die angewandte Forschung virulent zu werden. Das Projekt beginnt dabei nicht bei null. Ausgangspunkt ist ein Scanning von Entwicklungen und Trends, die in nationalen und internationalen Foresight-Projekten der Projektpartner (v. a. RIBRI, FRAME, OBSERVE, CIMULACT) identifiziert wurden. Diese Impulse werden vom Projektteam in einem systematischen Prozess gesichtet, aufbereitet und für die anschließende Bewertung zu einer Sammlung von ca. 50 Themen verdichtet. Für die Bewertung des Zukunftspotenzials dieser 50 Themen wurde auf die Expertise der Fraunhofer-Institute zurückgegriffen. In einer Online-Befragung haben Institutsleitungen und Führungskräfte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeit erhalten, ihre Einschätzungen abzugeben.

 

3.    Einige Theorien, die versuchen Wissen zu quantifizieren, gehen davon aus, dass sich das Wissen der Menschheit in einem Zyklus von weniger als zehn Jahren verdoppelt. Wie kann man denn mit heutigem Wissensstand eigentlich erarbeiten, was zum Beispiel im Jahr 2030 relevant sein könnte?

Zentrale Grundelemente der Zukunftsforschung sind[1] das »vernetzte Denken« und die »multiple Zukunft«. Ersteres steht für einen integrativen Betrachtungsansatz, bei dem der Kontext und komplexe Zusammenhänge zwischen diversen Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Dabei wird beispielsweise ein Zukunftsthema als Bestandteil eines umfassenden Systems betrachtet, welches vielfältigen, in sich vernetzten und dynamischen Einflüssen aus der Umwelt unterliegt. Zum Beispiel die fortschreitende Globalisierung oder der technologische Wandel. Das Konzept der »multiplen Zukunft« steht dabei für die gleichzeitige Berücksichtigung von mehreren alternativen Entwicklungsmöglichkeiten. Das Ergebnis derartiger Zukunftsforschung stellen in der Regel mehrere (drei bis sechs) alternative Zukunftsbilder dar, die im Anschluss an ihre Entwicklung strategisch interpretiert werden.

 

4.    Liebe Frau Riemer, Sie leiten die Gruppe »Professionalisierung von Wissenstransferprozessen« am Fraunhofer IMW. Fraunhofer-Forschung ist naturgemäß eng mit Impulsen aus der Praxis, z. B. von kleinen und mittleren, mittelständischen Betrieben und Familienunternehmen, verbunden. Wie unterscheiden sich – in den Foresight-Projekten Ihrer Gruppe – die Antworten von Forscherinnen und Forscher von Anregungen, die Sie aus der Wirtschaft erhalten?

Um Zukunftsbilder oder Szenarien erarbeiten zu können, brauchen wir zunächst ein umfassendes Verständnis des zu betrachtenden Feldes heute. Dafür sind theoretische Annahmen, unterschiedliche Forschungsperspektiven und Daten, die häufig selbst erhoben werden müssen, gleichermaßen wichtig. Darüber hinaus sind die Impulse aus der Praxis sowohl bei der Selektion der relevanten Einflussfaktoren als auch bei der Validierung von Zukunftsbildern oder Szenarien von besonderer Relevanz, insbesondere, wenn Unternehmen die Adressaten der Zukunftsbilder sind. Das ist der Fall beispielsweise in den Projekten AGENT-3D oder Data Mining und Wertschöpfung.

 

5.    Wie kann ein Unternehmen Zukunftsszenarien für sich nutzen?

Nehmen wir das Beispiel der additiv-generativen Fertigung (AM). Diese Verfahren haben das Potenzial, die Produktentwicklung und -herstellung zukünftig zu revolutionieren. Sie ermöglichen beispielsweise eine völlig neue Designfreiheit oder funktionsangepasste, individualisierte Produkte, die nachfrageorientiert, zentral oder dezentral hergestellt werden können. Unternehmen könnten sich Vorteile auch durch den Wegfall von Lager- und Transportkosten verschaffen und gewinnen an Flexibilität und Zeit. Während jedoch für Erstausrüster die Vorteile häufig auf der Hand liegen, zögern kleine und mittlere Unternehmen (KMU) oft, bevor sie in Anlagen oder in Kompetenzaufbau investieren. Der Grund liegt nicht nur in der Finanzierung. Häufig fehlt es auch an Orientierungswissen, was alternative »Zukünfte« betrifft. Hier können Zukunftsszenarien helfen, die gezielt strategische Entscheidungsfindungen einbeziehen.

 

6.    Im Moment streiken wöchentlich Schülerinnen und Schüler bei den »Fridays for Future«, um auf gesellschaftlich relevante Themen aufmerksam zu machen. Welche Rolle spielen denn Themen wie Nachhaltigkeit und Klimawandel für die Wertschöpfung der Zukunft?

Diese Themen sind zweifellos sehr wichtig. Wie detailliert wir sie in unserer Arbeit betrachten, hängt immer von der Zielsetzung der jeweiligen Aufgabe ab. Für Umfeldanalysen sind Faktoren wie die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen oder mögliche Auswirkungen des Klimawandels häufig sehr relevant.

 

7.    Liebe Frau Döbel, zurück zum Projekt »Foresight-Fraunhofer«: Sie sind stellvertretende Leiterin der Gruppe »Professionalisierung von Wissenstransferprozessen« und arbeiten eng mit Frau Riemer und Frau Dr. Welz im Projekt zusammen. Am Ende der ersten Phase wurden 51 sogenannte »Spotlights« verdichtet. Was verbirgt sich dahinter?

Die »Spotlights« sind Themen, die zukünftig im Rampenlicht der angewandten Forschung stehen könnten und ein hohes Veränderungs- bzw. ein hohes Entwicklungspotenzial enthalten. Darunter sind sowohl technologische als auch gesellschaftlich relevante Themen aus den Bereichen Data, Materials, Society, Algorithmus & Hybrid Architecture, Human und Planet. Im Rahmen des Projekts wurden sie anhand von diversen Methoden wie Publikations-, Patent- und Social-Media-Analysen systematisch ausgewählt und von einem breiten Kreis von Fraunhofer-Forscherinnen und Forschern und externen internationalen Fachleuten bewertet und validiert.

 

8.    Beim Blick auf die Spotlights wird deutlich, dass Technologie, Mensch und Gesellschaft immer stärker miteinander verwoben sein werden. Was bedeutet das für die Fraunhofer-Gesellschaft und die anwendungsorientierte Forschung?

Viele der Zukunftsthemen bewegen sich in einem Grenzbereich zwischen den Disziplinen. Besonders relevant ist es für die Informationswissenschaft, Medizinwissenschaften oder Umwelttechnologien, wo beispielsweise viele neue Fragestellungen bezüglich der Ethik, dem Wertewandel in der Gesellschaft oder der Datensouveränität entstehen. Für die anwendungsnahe Forschung bedeutet es zum einen stärkere Konvergenz mit der Grundlagenforschung aber auch zunehmende Zusammenarbeit mit der Praxis. Zum anderen kommen neue Anforderungen an die inhaltliche Ausrichtung von Forschungsvorhaben und an integrative, interdisziplinäre Forschungsansätze auf. Auch neue Kooperations- und Wissenstransferformate zwischen Organisationen sind gefragt, die etwa eine stärkere Einbringung nichtwissenschaftlicher Akteurinnen und Akteure aus der Gesellschaft oder Politik ermöglichen würden.

 

9.    Liebe Frau Dr. Welz, das Projekt »Foresight-Fraunhofer« hat kürzlich erste Ergebnisse präsentiert und im Bericht »Fraunhofer Foresight« veröffentlicht. Was sind die zentralen Erkenntnisse dieser Publikation?

Das Projekt hat Zukunftsthemen identifiziert, die grundlegende Veränderungen mit sich bringen werden und daher besondere Aufmerksamkeit erfordern. Zu diesen Themen zählen beispielsweise Deep Learning – AI, Re-Economy und die Nutzung und Erhaltung von Biodiversität. Darüber hinaus wurden Themen erkannt, von denen eine besonders hohe Innovationsdynamik ausgeht. Einige dieser Themen, wie etwa Biohybrid, Water Harvesting Membrans und pHealth, sind schon heute für die angewandte Forschung sehr relevant. Andere Spotlights sind bislang eher Nischenthemen, die sich aber dynamisch entwickeln und daher bald auf ein breiteres Interesse stoßen könnten. Viele Themen aus dieser Gruppe haben einen Bezug zur Mikroelektronik, wie Neuromorphic Chip oder Quantum Communication. Außerdem identifizierte die Studie eine weitere Themengruppe mit besonderer gesellschaftlicher Relevanz. Zu diesen zum Teil sehr kontrovers diskutierten Themen gehören etwa Geoengineering, Civic Technologies und Reprogramming of Human Cells.
Der Foresight-Prozess wurde als breiter Blick in die Zukunft angelegt, der insbesondere emergente Technologien betrachtet, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen und die Verbindungen zwischen den fachlichen Gegenstandsbereichen (Technik, Wirtschaft und Gesellschaft) aufzeigt. Die Ergebnisse bilden eine fundierte Wissensbasis für eine Zukunftsorientierung und zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Projekte mit spezifischen Fragestellungen mit den Kooperationspartnerinnen und -partnern aus Wirtschaft, Politik und öffentlicher Hand.

 

10.  Jetzt steht die zweite Forschungsphase an. Welche Schritte sind nun zu gehen?

In der zweiten Forschungsphase steht der »Revised Scanning« Prozess im Mittelpunkt und beinhaltet neben einer Validierung ein Update der identifizierten Impulse.
Um einen innovativen, längerfristigen Foresight-Prozess von und für die Fraunhofer-Gesellschaft zu entwickeln, wird ausgehend von den vorliegenden Ergebnissen und Erfahrungen gemeinsam mit den Projektpartnern ISI, IAO und INT ein weiterer Scanning-Prozess durchgeführt, bei dem neue methodische Elemente entwickelt und erprobt werden sollen. Diese neuen Elemente beziehen sich dabei sowohl auf Zukunftsperspektiven im sozioökonomischen Bereich als auch auf technologische Entwicklungen, sowie deren integrierte Betrachtung. Die Weiterentwicklung bzw. Verschmelzung der Methoden trägt dabei zur Entwicklung eines langfristigen Scanning und Scouting-Prozesses bei. Ziel ist es, ein Instrumentarium zu schaffen, das zur Etablierung eines fortlaufenden, systematischen Foresight-Prozesses der Fraunhofer-Gesellschaft genutzt werden kann.

 

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